„Höchstens jedes zehnte Kind beim Arzt ist wirklich schwer krank“
Von
Stephanie Wesely
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Die Praxen der Kinderärzte sind auch jetzt im Sommer gut gefüllt. Vor allem Atemwegsinfektionen und Allergien treiben die Eltern in die Sprechstunde, sagt Dr. Melanie Ahaus, Sprecherin des Berufsverbandes der Kinderärzte in Sachsen. Im Gespräch mit der SZ erklärt sie, wann ein Arztbesuch wirklich nötig ist.
Frau Doktor Ahaus, welcher Anteil der Kinder, die zu Ihnen in die Praxis kommen, ist wirklich ernsthaft krank?
Aus meiner Erfahrung und der meiner Kollegen kann ich sagen, dass höchstens zehn Prozent der Kinder wirklich schwer krank sind, die meisten Infektionskrankheiten haben harmlose Verläufe. Das Gleiche gilt auch für Notaufnahmen.
Bei welchen Krankheitszeichen sollten Eltern denn unbedingt zum Arzt – auch am Wochenende?
Das kommt weniger auf die einzelnen Symptome, mehr auf den Verlauf an. Ein drei- oder vierjähriges Kind, das plötzlich fiebert, sich aber fit fühlt und auch Appetit hat, muss nicht gleich zum Arzt. Das Fieber geht meist so schnell wieder, wie es gekommen ist. Fiebersenkende Mittel sollten Eltern ohnehin nicht gleich bei der ersten Temperaturerhöhung geben. Denn Fieber ist nicht als Gefahr, sondern als unser Freund anzusehen. Damit bekämpft der Körper Krankheiten, es ist eine wichtige Abwehrmaßnahme. Wichtig ist, dass das Kind ausreichend trinkt und gut beobachtet wird. Wird es apathisch, oder verschlechtert sich sein Zustand mit der Zeit, dann ist ärztlicher Rat wichtig. Ich beobachte bei vielen Eltern ein gutes Bauchgefühl, sie können gut einschätzen, ob ihr Kind dem Arzt vorgestellt werden sollte oder nicht. Doch oft sind es irritierende Ratschläge aus der Umgebung oder aus dem Netz, die verunsichern. Eine Ausnahme gibt es aber: Säuglinge unter drei Monaten mit Fieber sollten immer dem Arzt vorgestellt werden.
Haben Sie den Eindruck, dass die Eltern besorgter sind als früher?
Ja. Diese Tendenz beobachten wir in den letzten Jahren zunehmend. Durch Corona hat sich das sogar verstärkt. Die Kontaktbeschränkungen im Lockdown hatten zur Folge, dass viele Kinder gar keine Infekte durchmachen mussten. Das holen sie jetzt nach, und das verunsichert viele Eltern, weil sie das so nicht kannten. Es fehlen auch die größeren Familienverbünde an einem Ort, wo junge Eltern von den Erfahrungen der Älteren profitieren konnten.
Wie gelangen Eltern zu etwas mehr Gelassenheit in Sachen Kindergesundheit?
Indem sie sich immer wieder darüber bewusst werden, dass die überwiegende Mehrzahl der Kinder gesund zur Welt kommt und gesund aufwächst. Selbst eine Infektionskrankheit können Kinder gut wegstecken. Wichtig ist, dass Eltern nicht so viele Horrormeldungen, etwa im Internet, lesen. Das sind in der Regel Einzelfälle, die schnell überbewertet werden.
Viele Eltern nutzen aber solche Chats. Gibt es auch Online-Beratungsmöglichkeiten, die Sie empfehlen?
Die Chats sehe ich kritisch. Die Eltern bekommen dort zu viele undifferenzierte Informationen. Wenn man nur lange genug recherchiert, findet man bei jedem Schnupfen eine Lebensgefahr. Es gibt aber auch Internetportale, die hilfreich sind. Dazu gehört zum Beispiel die „Praxisapp Mein Kinder- und Jugendarzt“. In dem Portal wählen Eltern ihren Kinderarzt vor Ort aus – sofern die Praxis registriert ist. Eine Chatfunktion ist ebenfalls geplant. Per Newsletter oder im Infoteil der App erhalten Eltern zusätzlich nützliche Tipps zum gesunden Schlaf, zur richtigen Ernährung oder zur Hilfe bei Unpässlichkeiten in den entsprechenden Altersstufen.
Der Kinderarzt sollte immer die erste Stelle für Gesundheitsinformationen sein. Aber haben die Ärzte heute überhaupt noch die Zeit, den Eltern ihre Fragen zu beantworten?
Dazu gibt es die Vorsorgetermine. Im gelben Vorsorgeheft steht der Zeitpunkt, wann eine solche Vorsorgeuntersuchung stattfinden sollte. In dieser hat der Arzt auch mehr Zeit eingeplant als in der Akutsprechstunde. Ich empfehle Eltern, sich zuvor ihre Fragen auf einen Zettel zu notieren, um dann beim Vorsorgetermin keine zu vergessen.
Sind Kinder heute häufiger krank?
Nein. Die große Erkrankungswelle um den letzten Jahreswechsel sehe ich eher als Sonderfall und als Relikt der Corona-Pandemie. Wir hoffen, dass sich die Lage im kommenden Herbst und Winter wieder etwas normalisiert. Die Kinder sind im Schnitt also nicht häufiger, aber anders krank als frühere Generationen. So haben zum Beispiel Infektionskrankheiten ihren Schrecken verloren. Es gibt Impfungen und auch die Lebensbedingungen sind so, dass Kinder Krankheiten gut abwehren und bekämpfen können.
Aber Scharlach ist doch wieder sehr stark im Kommen?
Das stimmt. Wir führen das auch auf Nachholeffekte durch Corona zurück. Das ängstigt viele Eltern, die diese Krankheit gar nicht mehr so kannten. Doch Scharlach ist gut behandelbar.
Und wie ist das mit den RS-Virusinfektionen? Viele Kinder mussten um den letzten Jahreswechsel deshalb sogar ins Krankenhaus. Erwarten Sie wieder eine Welle?
RS-Viren sind Erkältungsviren. Da wird es im Herbst und Winter ganz bestimmt wieder einen Anstieg geben. Das ist auch wichtig, dass Kinder mit Infektionen konfrontiert werden, weil das ihr Immunsystem stärkt. Dann fallen Erkrankungen im Wiederholungsfall auch nicht mehr so schwer aus. Deshalb rechnen wir nicht wieder mit so vielen Krankenhausaufnahmen wie im letzten Jahr.
Sollten Eltern das Immunsystem ihrer Kinder jetzt stärken?
Wenn Eltern diese Frage in der Apotheke stellen, können sie ganz viel kaufen. Hier wirkt auch die Werbung. Aus meiner ärztlichen Sicht sollten sich Kinder viel an frischer Luft bewegen – bei jedem Wetter. Das ist die beste Immunstärkung. Hinzu kommt vitaminreiche Kost mit viel Obst und Gemüse. Wobei viel relativ ist. Kleinere Kinder schaffen keine fünf Portionen Obst und Gemüse am Tag, sie essen eine oder zwei, und das reicht auch. Vitamintabletten brauchen sie deshalb nicht. Was ich aber zur Nahrungsergänzung empfehle, ist Vitamin D. Im ersten Lebensjahr bekommen sie es ja sowieso. Danach ist es hauptsächlich im Winter ratsam.
Sind denn jetzt endlich alle gesundheitlichen Coronafolgen überwunden?
Nein, vor allem die psychischen nicht. Wir haben viel mehr Kinder und Jugendliche mit Ess- und Angststörungen oder Schulverweigerer. Die Schulschließungen waren eine Katastrophe für unsere Kinder, mit denen wir noch lange zu kämpfen haben. Die Infekthäufungen sind aus meiner Sicht aber jetzt hoffentlich durch.