Von Andreas Körner
Es war die Hülse. Corona hatte die Aufhängung des Bullenschädels verengt, doch natürlich war nicht das Virus selbst verantwortlich, sondern eine mutmaßlich falsche Lagerung während der Pandemiepause. Ohne das einst sperrhölzerne und längst stählerne, knapp drei Tonnen schwere und mit Gasanlage zum „Flambieren“ versehene Wahrzeichen des 1990 gegründeten und pompös angewachsenen Metal-Festivals Wacken Open Air (W:O:A) geht nichts. „Erst wenn der Schädel hängt, dann ist Wacken!“, heißt es im Bühnenbauerjargon dort oben im Norden der Republik.
2022 wurde also die Hülse geweitet. Nach erstmaliger, dann gleich zweijähriger Zwangspause ging das kultig gepriesene Musik- und Lebensfest an den Neustart, wurde wieder ein 1900-Seelen-Dorf zur drittgrößten Stadt in Schleswig Holstein. Über 80.000 Menschen aus aller Welt pilgerten nach Wacken, hausten in Zelten und mobilen Wohnungen, kämpften sich von Rampe zu Rampe, tranken weiter, als der Durst schon verflogen war, lebten temporär Gemeinschaft und hörten laute, sehr laute Metal-Klänge. Kaum abgereist, wurden rasch die Tickets für den neuen Jahrgang geordert. Denn unentschuldigt zu fehlen, gefährdet die Versetzung.

© RTL / Thomas Leidig
Spaß, Nostalgie, Flair und eine Handvoll Verrückte
So werden auch am kommenden 2. August wieder die Finger zu Pommesgabeln geformt, ertönt dieses brunftig geröhrte „Wackähen!!“ und fassen sich die W:O:A-Gründer Thomas Jensen und Holger Hübner an den Kopf. Was, ist nur aus dieser fixen Idee geworden? Und wie war es eigentlich damals? Mal Serie schauen, sechs Dreiviertelstunden „Legend of Wacken“. Mal sehen, ob das alles so stimmt.
Alles stimmt freilich nicht, es ist ja Fiktion auf Basis von Tatsachen, was da unter der Obhut von Regisseur Lars Jessen entstand. Jessen, der „Dorfpunks“ erschuf, „Mittagsstunde“ und „Fraktus“ und der sich auskennt mit Kino, Fernsehen, Serien und Musik im Film und Zeitgeist im Erdachten. Spirit ist auf alle Fälle drin, wie die echten Jensen und Hübner am Schluss der letzten Episode verkünden. Bis dahin gibt es diebischen Spaß, nostalgisches Mäandern, Flair und eine Handvoll Verrückte.
Kurzschluss – Koma – Krankenhaus
Und schon wieder der Bullenschädel. Holger Hübner (Charly Hübner, diesmal mit Metal-Matte) hat gerade mit Thomas Jensen (Aurel Manthey) die neueste Ausgabe des W:O:A eröffnet, gedreht 2022 vor Ort am Schauplatz, als der logistische Wacken-G.A.U. geschieht: Der Bullenschädel hoch droben zwischen den Hauptbühnen brennt nicht. Holger Hübner greift höchstselbst zum Kabel und bekommt eine gewischt. Kurzschluss. Koma. Krankenhaus. „Hier geht nix weiter ohne Holger, ist das klar?“, ruft Jensen noch ins Walkie-Talkie.
Die betreuende Ärztin antwortet auf Jensens Frage, wann Hübner denn wieder aufwachen wird, mit medizinisch korrekter Diplomatie: „Vielleicht nächste Woche, vielleicht in fünf Minuten, vielleicht nie wieder“. Jensen: „Fünf Minuten ist gut!“ Wäre aber schlecht für die Serienidee, denn die speist sich genau aus dieser Konstellation. Hübner, und mit ihm Namensvetter Charly, liegt, von kurzen Halbwach-Schüben abgesehen, größtenteils im Bett, während Kumpel Thomas und der engste Kreis versuchen, den Patienten dauerhaft zurückzuholen.

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Einst fanden die Helden Wacken „zum Kacken“
Hilfsmittel sollen wirklich helfen: Bier, Banner, Bockwurst, Kassettenmusik und Biff Byford, Frontmann der Band Saxon. Die größte Hoffnung setzt die Ärztin aber auf „persönliche Ansprache und das Stimulieren von Emotionen“. Was kann da besser sein, als sich des Beginns einer wunderbaren Freundschaft zu besinnen, als Wacken nur eines war: Acker am Arsch der Heide.
Auch Holger und Thomas in jung (Sammy Scheuritzel und Sebastian Jakob Doppelbauer) finden Ende der Achtziger Wacken „zum Kacken“, schrammeln ohne Verstärker Bass im Kinderzimmer, jobben hinterm Landgasthof-Tresen von Wirt Karl-Heinz (Marc Hosemann) mit Stammgast Bauer Trede (Detlev Buck), der am liebsten dem Geld entgegengeht, anstatt ihm hinterherzulaufen. Also wird er es schließlich auch sein, der 1990 den Jungs seine Wiese für den eher kümmerlichen W:O:A-Prototyp vermietet. Ab da sind jährlich Kämpfe zu kämpfen, Kredite zu stemmen, Miese zu meistern, Unfälle zu überleben, Vorwürfe zu widerlegen, Skyline, die eigene Band, würde klingen, als würde man Paletten zersägen.

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Auch der tote Motörhead-Sänger Lemmy taucht wieder auf
Was aber tun mit dem ausgebremsten Festival 2022? Wacken ohne Holger? Thomas ahnt Arges: „Da will ich nicht erleben, wenn der wieder wach wird.“ Während alle Erzählungen auf Station, außer Lippenflattern, nicht viel zur Auferstehung des Patienten beitragen, taucht Hübner seinerseits in surrealistische Albträume ab, in denen der tote Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister erscheint und ihn in die rote Hölle entführen mag: „Zeit zu sterben, Holger“.
Offensichtlich hatte der in Mecklenburg-Vorpommern schwer mit Heavy Metal sozialisierte und bekennende Wacken-Fan Charly Hübner hier seine einflussreichen Finger im Ideenbuch, denn in einem schmalen Bändchen der KiWi-Musikbibliothek huldigte er Lemmy, Motörhead und dem Teufel schon auf eigene Weise.
Viel Kolorit, Gefühl und Außenseiterherz
Als Serie atmet „Legend of Wacken“ viel Kolorit, Gefühl und Außenseiterherz plus jede Menge Hardrock, Wodka und Schweiß. Die Handlungsebene mit einer zu erweckenden lesbischen Metal-Queen hilft nicht wirklich, dafür aber der durchgängig spröde Grundton, der Lust macht auf entweder das wahre Wacken, so man denn Karten bekommt und noch im Vollbesitz seiner Kräfte ist, oder auf zwei dann voll authentische Film-Dokumentationen von 2006 („Full Metal Village“) und 2014 („Wacken – Der Film“).
Zu Letzterer meinte Thomas Jensen einst im Interview mit der Sächsischen Zeitung: „Man hat über uns gesagt: Zwei Ewiggestrige veranstalten ein Fest und die anderen Ewiggestrigen kommen. Wacken ist nicht Produkt, sondern Prozess. Wir sind in ein Vakuum hinein und haben uns festgebissen.“ Ein Biss, der auf Dauer blieb. Unken hatten keine Chance.
„Legend of Wacken“ ist streambar auf RTL+, „Wacken – Der Film“ ist in der ZDF-Mediathek abrufbar.